Faszination Ordensleben – Finde Deine Berufung

Aus Papst Franziskus: Gaudete et exsultate
 

Eine dringende Notwendigkeit

167. Heutzutage ist die Haltung der Unterscheidung besonders notwendig. Das gegenwärtige Leben bietet enorme Möglichkeiten der Betätigung und der Ablenkung. Die Welt präsentiert sie, als wären sie alle wertvoll und gut. Alle, besonders die jungen Menschen, sind einem ständigen Zapping ausgesetzt. Man kann auf zwei oder drei Bildschirmen gleichzeitig navigieren und zugleich auf verschiedenen virtuellen Ebenen interagieren. Ohne die Weisheit der Unterscheidung können wir leicht zu Marionetten werden, die den augenblicklichen Trends ausgeliefert sind.

168. Das erweist sich als besonders wichtig, wenn eine neue Situation in unserem Leben auftaucht und wir dann unterscheiden müssen, ob es neuer Wein ist, der von Gott kommt, oder aber eine trügerische Neuigkeit des Geistes der Welt oder des Geistes des Teufels. Bei anderen Gelegenheiten geschieht das Gegenteil, wenn die Kräfte des Bösen uns verleiten, uns nicht zu ändern, die Dinge so zu lassen, wie sie sind, sich für die Unbeweglichkeit und eine starre Haltung zu entscheiden. So behindern wir das Wehen des Heiligen Geistes. Wir sind frei, mit der Freiheit Jesu Christi; doch er ruft uns, das zu prüfen, was in uns ist – Wünsche, Ängste, Furcht, Sehnsüchte – und das, was außerhalb von uns geschieht – die „Zeichen der Zeit“ –, damit wir die Wege der Freiheit in Fülle erkennen: »Prüft alles und behaltet das Gute!« (1 Thess 5,21).

Immer im Licht des Herrn

169. Der Unterscheidung bedarf es nicht nur bei außergewöhnlichen Ereignissen, wenn es schwierige Probleme zu lösen gilt oder wenn eine wichtige Entscheidung getroffen werden soll. Sie ist ein Mittel im Kampf, um dem Herrn besser zu folgen. Wir brauchen sie immer, um fähig zu sein, die Zeiten Gottes und seiner Gnade zu erkennen, um die Inspirationen des Herrn nicht zu verpassen, um seine Einladung zum Wachstum nicht vorbeigehen zu lassen. Oftmals entscheidet sich dies im Kleinen, in dem, was irrelevant erscheint, weil sich die Hochherzigkeit im Einfachen und Alltäglichen zeigt.[124] Es handelt sich darum, dem Großen, dem Besten und Schönsten keine Grenzen zu setzen, aber sich gleichzeitig auf das Kleine zu konzentrieren, auf die tägliche Hingabe. Deshalb bitte ich alle Christen, es nicht zu unterlassen, jeden Tag im Gespräch mit dem uns liebenden Herrn eine ehrliche Gewissenserforschung zu machen. Zugleich führt uns die Unterscheidung dazu, die konkreten Mittel zu erkennen, die der Herr in seinem geheimnisvollen Plan der Liebe vorbereitet hat, damit wir nicht nur bei guten Vorsätzen stehen bleiben.

Eine übernatürliche Gabe

170. In der Tat schließt die geistliche Unterscheidung die Hilfe der menschlichen, existentiellen, psychologischen, soziologischen oder moralischen Weisheit nicht aus. Sie transzendiert sie jedoch. Nicht einmal die weisen Normen der Kirche reichen ihr aus. Erinnern wir uns immer daran, dass die Unterscheidung eine Gnade ist. Sie schließt Vernunft und Besonnenheit mit ein, übersteigt sie aber; denn sie trachtet danach, das Geheimnis des einzigartigen und unwiederholbaren Plans zu erfassen, den Gott für jeden einzelnen Menschen hegt und der sich inmitten der unterschiedlichsten Lebensumstände und Begrenzungen verwirklicht. Es geht nicht nur um ein zeitlich begrenztes Wohlbefinden, noch um die Befriedigung, etwas Nützliches zu tun, und nicht einmal um das Verlangen, ein ruhiges Gewissen zu haben. Es geht um den Sinngehalt meines Lebens vor dem Vater, der mich kennt und liebt; es geht um den wahren Sinn meiner Existenz, die niemand besser kennt als er. Die Unterscheidung führt letzten Endes zur Quelle des Lebens selbst, das nicht stirbt, zur Erkenntnis des Vaters, des einzigen wahren Gottes, und dessen, den er gesandt hat, Jesus Christus (vgl. Joh 17,3). Das erfordert weder besondere Fähigkeiten, noch bleibt es nur den Klugen und Gebildeten vorbehalten. Der Vater offenbart sich gerne den Demütigen (vgl. Mt 11,25).

171. Wenn auch der Herr auf verschiedene Weise zu uns spricht, inmitten unserer Arbeit, durch die anderen und in jedem Augenblick, so kann man doch nicht auf die Stille des Gebets verzichten, um seine Sprache besser wahrzunehmen, um die wirkliche Bedeutung von Eingebungen zu interpretieren, die wir zu empfangen glauben, um die Angst zu verlieren und um die Gesamtheit unserer eigenen Existenz im Licht Gottes wieder zusammenzufügen. So können wir diese neue Synthese entstehen lassen, die aus einem vom Heiligen Geist erleuchteten Leben entspringt.

Rede, Herr

172. Dennoch kann es sein, dass wir uns selbst beim Gebet nicht der Freiheit des Geistes, der wirkt, wo er will, stellen wollen. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Unterscheidung im Gebet von einer Bereitschaft zum Hören ausgehen muss: auf den Herrn, auf die anderen, auf die Wirklichkeit selbst, die uns immer auf neue Weisen fordert. Nur wer bereit ist zu hören, besitzt die Freiheit, seine eigene partielle und unzulängliche Betrachtungsweise, seine Gewohnheiten und seine Denkschemata aufzugeben. So ist man wirklich bereit, den Ruf zu hören, der die eigenen Sicherheiten aufbricht und zu einem besseren Leben führt, weil es nicht genügt, dass alles soweit gut geht und ruhig ist. Vielleicht will Gott uns Größeres schenken, und wir in unserer bequemen Zerstreutheit merken es nicht.

173. Diese Haltung des Hörens schließt im Übrigen den Gehorsam gegenüber dem Evangelium als letztes Kriterium ein, aber auch gegenüber dem Lehramt, das es bewahrt und versucht, im Schatz der Kirche das zu finden, was am fruchtbarsten für das Heute des Heils ist. Es geht nicht darum, Rezepte anzuwenden oder die Vergangenheit zu wiederholen; denn die gleichen Lösungen gelten nicht unter allen Umständen, und was in einem Zusammenhang nützlich war, kann es in einem anderen nicht sein. Die Unterscheidung der Geister befreit uns von einer Starrheit, die keinen Bestand hat vor dem ewigen Heute des Auferstandenen. Einzig und allein der Heilige Geist weiß, in die dunkelsten Winkel der Wirklichkeit vorzudringen und alle ihre Schattierungen im Auge zu haben, damit die Neuheit des Evangeliums in einem anderen Licht aufleuchtet.

Die Logik des Geschenks und des Kreuzes

174. Eine wesentliche Bedingung für das Fortschreiten in der Unterscheidung besteht in der Einübung in die Geduld Gottes und in seine Zeitmaßstäbe, die niemals unseren entsprechen. Er lässt nicht Feuer über die Ungläubigen vom Himmel fallen (vgl. Lk 9,54); er gestattet es den Eifernden nicht, das Unkraut auszureißen, das gemeinsam mit dem Weizen wächst (vgl. Mt 13,29). Zudem bedarf es der Großherzigkeit, denn »geben ist seliger als nehmen« (Apg 20,35). Wir führen die Unterscheidung nicht durch, um herauszufinden, was wir sonst noch aus diesem Leben herausholen können, sondern um zu erkennen, wie wir diese Sendung, die uns in der Taufe anvertraut wurde, besser erfüllen können. Das bedeutet, zum Verzicht bereit zu sein und sogar alles hinzugeben. Denn das Glück ist paradox, und es schenkt uns die tiefsten Erfahrungen, wenn wir diese geheimnisvolle Logik, die nicht von dieser Welt ist, akzeptieren. So sagte der heilige Bonaventura in Bezug auf das Kreuz: »Das ist unsere Logik.«[125] Wenn jemand diese Dynamik annimmt, dann lässt er sein Gewissen nicht betäuben und öffnet sich großherzig der Unterscheidung.

175. Wenn wir vor Gott die Wege des Lebens prüfen, gibt es keine Räume, die ausgeschlossen bleiben. In allen Bereichen unserer Existenz können wir weiter wachsen und sie etwas mehr Gott übergeben, auch dort, wo wir die größten Schwierigkeiten erfahren. Doch müssen wir den Heiligen Geist darum bitten, dass er uns befreie und jene Angst vertreibe, die uns dazu bringt zu verhindern, dass er in einige Bereiche unseres Lebens eintritt. Wer alles von ihm erbittet, dem gibt er auch alles. Er will nicht bei uns eintreten, um zu verstümmeln oder zu schwächen, sondern um die Fülle zu schenken. Dies lässt uns sehen, dass die Unterscheidung keine stolze Selbstanalyse oder egoistische Nabelschau ist, sondern ein wahrer Ausgang von uns selbst auf das Geheimnis Gottes zu, der uns hilft, die Sendung zu leben, zu der wir zum Wohl der Mitmenschen berufen sind.

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